Vermutlich haben die meisten von uns schon einmal mit dem Smartphone ein Selfie geschossen. Am Strand, beim Essen mit Freunden, kurz vor einem Konzert vor der oder dem Fußballspiel, mit der
Partner*In vor dem roten Abendhimmel, im Urlaub oder morgens mit dem ersten Kaffee am Schreibtisch.
Zack zack, etwas umständlich den Arm mit dem Handy so weit wie möglich gestreckt, den Effekt der Verzerrung durch den Weitwinkel-Effekt des Kameraobjektivs innerlich ausgeblendet, kurz in die
Kamera gelächelt oder grimassiert, vielleicht noch einen Filter drüber und schwupp, bei Instagram und Co. hochgeladen oder in einem persönlichen Urlaubsordner abgelegt.
Manche lieben es, manche hassen es.
Es ist wie mit den meisten Dingen.
Ist ein Selfie schon ein Selbstportrait?
Es gibt keine klare Abgrenzung zum Selfie, wie ich im Buch ‚Das Selbstporträt‘ vom Rheinwerk-Verlag lese. Aber ich unterstütze die dortige Beschreibung zum fotografischen Selbstportrait, die
besagt, dass ein konzeptionell durchdachtes Selbstportrait eigentlich etwas anderes ist.
Ein Selbstportrait möchte keine reine Erinnerung sein, es möchte etwas Tieferes, Innerliches zum Ausdruck bringen. Etwas über die eigene Persönlichkeit oder Stimmung erzählen.
Etwas, was, was sich in uns selbst befindet und ins Aussen möchte, arbeitet sich darin heraus. Unsere Haltung, unsere Ängste, unsere Denkknoten, etwas aus unserer Persönlichkeit … weil es
vielleicht einfacher ist, es künstlerisch in eine Geschichte zu verweben, als darüber zu sprechen. Oder weil wir Lust haben, in Rollen zu schlüpfen, in denen wir sonst nicht sind.
Es ist auch eine Art Spiel.
Unsere ureigene Geschichte
Es ist unsere ureigene Geschichte selbst, die die Oberfläche sucht.
Wir können sie selbst am besten erzählen.
Deshalb suchen wir uns kein Model, sondern setzen uns selbst ins Bild.
Weil wir selbst am besten wissen, was wir erzählen wollen und wie wir es ausdrücken können.
Reise in die Selbstreflexion und ins Unbewusste
Für die Entwicklung meiner Bilder ist ein wichtiger Punkt meine Selbstreflexion. Sie führt dazu, dass ich die inneren Geschichten wahrnehmen kann, die zu meinen Stimmungen und Gefühlen
auftauchen.
Im Buch ‚Das Selbstportrait‘ schreibt Marlena Wels: ‚Es ist (…) ein großartiger Weg, um sich mehr mit seiner eigenen Gefühlswelt auseinanderzusetzen und sich selbst besser zu verstehen. Man
befasst sich stärker mit seinen Emotionen, Blockaden und Situationen und dessen Auswirkungen, was einem dann hilft, sich weiter zu entwickeln.’ (S. 173)
Genau so empfinde ich es auch.
Und wenn ich meine Bilder betrachte, merke ich, dass auch unbewusste Anteile meine Reise lenken und die Geschichten Dinge ans Licht bringen, die ich nicht wirklich geplant habe. Das macht die
Arbeit umso spannender, weil sie Licht in ein Dunkel bringt, das ich auf bewusstem Wege nicht immer erreichen kann. Die Kombination gefällt mir sehr.
Konzeptionelle Selbstportraits sind keine Schnappschüsse.
Sie erfordern Vorarbeit.
Selbstportraits mit Konzept entstehen in der Regel nicht spontan. Meist steht ein längerer Prozess dahinter. Etwas, was schon länger arbeitet, ein Bild, was mich inspiriert hat, ein Gedanke, der immer wieder auftaucht …
Der Prozess der Bildentstehung
verläuft bei mir in mehreren Stufen.
- es taucht ein Bild vor meinem inneren Auge auf, eine Idee, ich sehe etwas, was mich inspiriert, ich habe ein Thema, was ich umsetzen möchte
- ein sorgsames Hineinspüren in die eigenen Beweggründe, in Gefühle, die mit bestimmten Momenten oder Gedanken gekoppelt sind: der Prozess der Selbstreflektion. (Dieser erste Schritt läuft nicht immer bewusst ab. Es kann sein, dass einfach etwas auftaucht, dem ich dann bewusster nachgehe.)
- das Wahrnehmen der inneren Bilder, die bei der Reflektion auftauchen
- eine Brainstorming-Liste
- evtl. Recherche, Suche nach Bildern mit zB ähnlichen Lichtverhältnissen oder Farben, Moodboard
- eine grobe Skizze in eins meiner Notizhefte
- Die Frage: Welche Geschichte möchte ich hier erzählen?
- Überlegungen zur Umsetzung: fällt mir ein Ort ein, an dem ich fotografieren könnte? Habe ich ein passendes Hintergrundbild in meinem Foto-Fundus? Möchte ich mir ein passendes Diorama bauen? (Dioramen sind kleine Bauten, ähnlich Puppenhäusern, die man ausstatten kann, um sie dann als zu fotografieren und als Bildhuntergrund zu nutzen … ich werde in einem späteren Blogartikel darauf eingehen.)
- Überlegungen zu Licht und Perspektive, zu Farbe und Stimmung
- Gedanken zu Kleidung und Requisiten
- Brauche ich ggf. Stockfotos, die ich nutzen kann
- Fotoshooting und Zusammenstellung
- Kreative Bearbeitung in Photoshop: Freistellen, Zusammenführen, anpassen, vermischen, Farbe, Licht, Stimmung, Malen, Texturen
Ihr seht, diese Arbeit kann mitunter mehrere Tage bis Wochen in Anspruch nehmen.
Die Umsetzung der Ideen ist ein weiterer Prozess, der nicht nur geplant, sondern oft auch intuitiv abläuft.
Nicht selten unterscheidet sich das Ergebnis deutlich von der ersten Skizze (nicht nur in der Qualität ;-) … oder es kommt etwas ganz anderes dabei heraus
… auch dazu komme ich in einem späteren Blogartikel.)
Der Wunsch nach dem Ausdruck einer inneren Angelegenheit.
Ich war, was mich selbst betrifft, lange eher zurückhaltend und unsicher in meiner Selbstwahrnehmung und im Ausdruck meiner inneren Welt. Durch die Fotografie hat sich mir ein Weg geöffnet, mich
selber besser zu verstehen UND anderen etwas von mir zu erzählen, ohne Worte dafür finden zu müssen. Eigene Prozesse künstlerisch zu verarbeiten, kann eine sehr schöne, mitunter anstrengende,
aber auch leichte und humorvolle Art sein, sich mit sich selbst und den eigenen Untiefen auseinander zu setzen.
Die Beweggründe, ein Selbstportrait zu entwickeln, sind sicher sehr vielfältig.
Möglicherweise kann auch ein Selfie ein schnappschussartiger Ausdruck inneren Seins sein und ein Selbstportrait ein Erinnerungsfoto.
Für mich gesprochen:
Meine komponierten Selbstportraits wollen Geschichten erzählen.
Geschichten, die auf meinen inneren Bildern basieren, die auftauchen, wenn ich mich selber bewusst versuche, wahrzunehmen, mich oder Situationen zu reflektieren, in mich hinein lausche oder in
eine Problembearbeitung verstrickt bin.
Geschichten, die auch euch vielleicht Lust machen, zu zu hören, hin zu sehen, hinein zu spüren und wahrzunehmen, darüber zu schmunzeln, nachdenklich zu werden oder euch selbst wieder zu finden.
Geschichten, die vielleicht inspirieren, selber in die Reflexion zu gehen und / oder kreativ zu werden. Die mir helfen, klarer zu sehen und mir bewusster zu werden. Und euch, vielleicht einmal
mehr zu lauschen. In eure eigene innere Welt.
Dort ist liegt eine grosse Fülle.
Habt Ihr Erfahrungen mit Selbstportraits?
Danke fürs Lesen.
Bis zum nächsten Mal,
Andrea
Quelle:
Heinemann, Linders, Wels, Wulff (2021). Das Selbstportrait. Das eigene Ich fotografisch in Szene setzen. Rheinwerk-Verlag